Es gibt Menschen, die haben Angst vor Alpträumen, und es gibt Konstantin Gropper. „Ich freue mich eher über einen bösen Traum“, sagt der Künstler, der am 08.06.2018 mit „The Horror“ sein fünftes Album als Get Well Soon veröffentlichen wird. „Ich träume so selten spektakulär, dass solche Alpträume für mich wie Inspirationsgeschenke sind. Ich wache auf und denke: daraus muss ich einen Song machen.“ Das hat er. Drei seiner verwirrendsten Träume hat er verarbeitet und drumherum ein ganzes Album voller orchestraler Musik über die Angst geschaffen, das seine Hörer zunächst weich bettet, nur um sie dann in umso abgründigere Sphären zu entführen.
Mit filmischen Arrangements und Konzeptalben kennt Gropper sich aus. Seit vor zehn Jahren sein Debüt „Rest Now, Weary Head! You Will Get Well Soon“ zeigte, wie mühelos sich große Instrumentierungen, eigentümliche Gedankengänge und eine Crooner- Stimme für die Ewigkeit in einem WG-Zimmer zum perfekten Pop-Album basteln lassen, hatte er seine Finger in vielen Bereichen im Spiel. Er hat Soundtracks für Filme und Serien geschrieben, war als Produzent mit dem deutschen Rapper Casper und dem kanadischen Pop-Dandy Sam Vance-Law im Studio und ist dabei trotzdem der Pop-Outsider mit dem eigenbrötlerischen Soloprojekt geblieben. Als Get Well Soon hat er Platten aufgenommen, die vom Stoizismus oder der Liebe handeln und mal wie ein Italo-Western klingen, mal wie ein Geisterschiff auf dem Marimba-Ozean, mal wie die größten Hits der 80er und 90er und mal wie eine warme Decke, unter der sich die Umrisse verlorener Städte abzeichnen. So viele riesig absurde Ideen vereint sonst niemand zu so schönen Songs weit abseits aller flüchtigen Trends und erschafft damit jedes Mal wieder einen ganz eigenen musikalischen und thematischen Kosmos. Warum jetzt also nicht ein vom Sinatra-Sound der 50er Jahre inspiriertes Album, das von den Schrecken unserer Zeit erzählt und damit aktueller klingt als jeder seiner Vorgänger? „Weil ich schon immer ein Album mit diesem Sound machen wollte“, sagt er. „Und weil er zu dieser Zeit passt, in der die Idylle unserer sicheren Welt zusammenbricht.“ Keine Horror- Klänge also, kein dokumentarisches Werk, sondern ein subversiver Traum-Soundtrack, der einem schmeichelt bevor sich der Abgrund auftut. „Die besten Horror-Filme sind doch die, in denen man das Monster nicht zu Gesicht bekommt, in denen die Bedrohung nicht greifbar ist.“
Die drei Songs „Nightmare No1 (Collapse)“, „Nightmare No2 (Dinner at Carinhall)“ und „Nightmare No3 (Strangled)“ bilden den persönlichen Ausgangspunkt von „The Horror“, indem sie Groppers Alpträume nacherzählen – oder zumindest die Teile, an die er sich erinnert. „Ich habe weder Zettel und Stift neben dem Bett liegen, noch trage ich einen Notizblock mit mir herum, auch wenn das alle immer empfehlen. Weshalb ich wahrscheinlich über die Hälfte meiner Ideen nie umsetze.“ Es bleiben die, die es wert sind. Gropper lässt sich nicht von seinen Alpträumen heimsuchen, er betrachtet sie neugierig und schmückt sie aus, bis sich ihr Horror langsam, aber eindringlich entfaltet. Das Böse wütet nicht durchs Album, es lauert zwischen den Zeilen. So werden Gedanken über den Weltuntergang vor der eigenen Haustür von Streichern sanft emporgehoben, während sich darunter der Boden öffnet. Beim Spaziergang durch Hermann Görings Jagdschloss umschmeicheln beschwingte Percussions den monströsen Hausherrn und seinen Gast. Sogar ein wiederkehrender Traum darüber, im finnischen Wald erwürgt zu werden, bekommt mit gesetztem Klavier und Chören eine beklemmende Würde: „Come and let us love you!“ Aus der verlockenden Umarmung wird schnell eine tödliche Bedrohung.
Aber Gropper wäre nicht Get Well Soon, wenn er bei den eigenen Hirngespinsten aufhörte. Wie jedes seiner Alben ist auch „The Horror“ zu gleichen Teilen aus Inspiration und Recherche entstanden. „Das Thema hat sich mir regelrecht aufgedrängt, aber ich habe immer das Bedürfnis, es noch mal alles irgendwie abzusichern, mir gewissermaßen eine Expertise anzueignen.“ Folglich beginnt und endet die Angst nicht im Bett, sondern draußen, und das Stück „Future Ruins pt.2“ eröffnet das Album: ein Song über Ruinen, inspiriert von den Schreckensbildern aktueller, aber auch vergangener Kriegsschauplätze: „Städte in Trümmern sehen eigentlich immer gleich aus.“ Das Bild der Ruinen durchzieht das ganze Album. Es ist die Angst vor der Wiederholung der Geschichte. Wir bewohnen künftige Ruinen, erbaut auf der letzten Trümmerschicht. Noch vor Groppers eigener Stimme ist diesmal eine andere zu hören: die tunesische Sängerin Ghalia Benali interpretiert das aus dem arabischen Mittelalter stammende Stück „Lama Bada Yathatanna“, welches vor Groppers Klangkulisse zum eindrücklichen Klagelied wird; später singt Gropper seinen Carinhall-Alptraum zusammen mit Sam Vance-Law und lässt sich in „Nightjogging“ von Kat Frankies Sprechgesang unterstützen. Feature-Gäste sind etwas Neues auf einem Get Well Soon Album, stehen aber in bester Sinatra-Tradition.
Der größte aller Crooner war diesmal nicht nur die Inspiration für Groppers Gesang, sondern auch für seine Arrangements, die sich auf „The Horror“ mehr als auf jeder Get-Well-Soon-Platte zuvor zu einem homogenen Album-Sound fügen. Nach den poppigen Songs auf „Love“ reizte ihn ein Album später wieder die klassische Musik in Soundtrack-Stärke. Aber diesmal sollte es nicht der leichte Italo-B-Movie-Sound von „The Scarlet Beast o‘ Seven Heads“ werden. Die Vorbilder von „The Horror“ sind die schwelgerischen Töne von Hitchcock-Komponist Bernard Hermann oder des französischen Soundtrack-Meisters Philippe Sarde, klassische US-amerikanische Werke des 20. Jahrhunderts von Charles Ives oder Morton Feldman und natürlich Nelson Riddle, der in den 50ern für Sinatra arbeitete. „Seine Arrangements wirken immer sehr leicht sind aber eigentlich ungeheuer komplex“, sagt Gropper. „Das passt zum Thema, weil die Musik immer etwas Träumerisches hat und sich die tatsächliche Tiefe erst auf den zweiten Blick entfaltet.“
Tatsächlich ist „The Horror“ in aller Bescheidenheit das orchestrale Meisterwerk von Get Well Soon geworden. Genau wie Gropper die eigenen bösen Geister nicht einfach so entkommen lässt, so fängt er auch die Alpträume unserer Zeit ein, um ihnen riesige Orchester auf die mickrigen Leiber zu schreiben. Es trippelt und tiriliert durch seine Songs, es huscht und schwillt und flutet. Hier springt eine Flöte aufgeregt durchs Bild, dort schnipst der Crooner mit seinen Gästen im Takt, da legt er sich quer am Holzbläserwald vorbei aufs Klavier. So düster „The Horror“ thematisch auch angesiedelt ist, so unvermittelt schleicht sich neben der Angst auch immer wieder der Humor ein. Gropper weiß nicht nur um die Absurdität eines Alptraums über einen finnischen Waldzwerg, sondern auch um die von Despoten mit lächerlichen Schwächen und die der Statussymbole unserer Zeit: „Eco-Car, Slow-Food, Swedish Style/ You’re On Your Way To Stay.“ In „An Air-Vent (In Amsterdam) verzaubert Gropper das Geräusch einer Hotellüftung in Musik, und auch sonst verankern immer wieder ungewöhnliche Field Recordings die Songs in der Realität: „Future
Ruins“ basiert auf einer Luftschutzsirene, der Beat besteht aus dem Geräusch einstürzender Häuser. In „Nightjogging“ sind Laufgeräusche zu hören, in „Misty Bay“ sind es Nebelhörner. In „Martyrs“ groovt er sein „Kindheitstrauma“ als Sohn eines Kirchenorganisten in ganz neue Höhen, in „(How to stay) Middle Class“ denkt er mithilfe von Kierkegaard, Foucault und flotten Streichern über die Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg nach. So offen politisch wie im schleppenden „The Only Thing We Have To Fear“ hat sich Gropper in seiner Musik noch nie geäußert, aber so nah ist ihm die AfD auch noch nie gekommen: deren Forderung nach einem Schießbefehl fiel bei einer Veranstaltung wenige hundert Meter vor seiner Haustür in Mannheim. Wobei die Wahlergebnisse zeigen, wie „nah“ sie uns allen sind, meist ohne das wir es wissen. Das ist das eigentliche Beängstigende: welchem meiner Nachbarn traue ich das zu? „Macht haben doch heute diejenigen, die den Menschen glaubhaft Angst einreden und ihnen versprechen, sie zu beschützen“, sagt Gropper. Das belegt der Erfolg der Populisten und rückt Roosevelts berühmtes Zitat („Das Einzige, das wir fürchten müssen, ist die Angst selbst“) in ein neues, aktuelles Licht.
Die Schrecken der Welt lassen sich nicht so einfach verscheuchen, aber Angst ist immer auch, was man daraus macht. „Mich inspirieren negative Dinge eher als positive“, sagt Konstantin Gropper, der in einer Zeit, in der die Angst die Welt zu lenken scheint, mit „The Horror“ sein beeindruckendstes Album gemacht hat. „Natürlich ist das alles sehr alarmierend, aber mich interessiert auch, woher diese Angst kommt. Das ‚Wie-Sind-Wir-Hier-Gelandet?’“ Sicher ist: Sie ist nicht zum ersten Mal da. Die Geschichte wiederholt sich, und „The Horror“ stellt die Frage, ob diese Tatsache alles noch tragischer macht, oder ob sich darin eine traurige, ja zynische Sicherheit finden lässt. Angst macht sie allemal. Die Furcht kann und will Gropper uns nicht nehmen, aber uns zumindest darin Gesellschaft leisten. So steht am Schluss, mit „(Finally) A Convienient Truth“, zumindest die beruhigende Erkenntnis, dass wir mit der Angst nicht allein sind: „It’s sure/ And will always be/ This is no cure/ But company/ So join hands/ In horror unite!/ Together we stand/ In darkest night.“